Für einen liberalen Islam

Die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Seyran Ates hat in Berlin Moabit mit Gleichgesinnten am 16. Juni 2017 eine „offene Moschee“ eröffnet, in der auch gleichgeschlechtliche Muslime beten können

Benedikt Vallendar

Berlin – Der Tod ist für Seyran Ates allgegenwärtig. Wiederholt erhielt die gebürtige Türkin Morddrohungen, einmal wurde sie gar angeschossen und musste anschließend für mehrere Jahre ihr Studium unterbrechen. Und das nur, weil sie sich für Frauen engagiert, die es satt haben, von Ehemännern, Brüdern und männlichen Verwandten wie Freiwild behandelt zu werden. Damals, als ein bis heute nicht ermittelter Täter in Kreuzberg auf sie und eine Klientin feuerte, die kurz darauf starb, war Ates gerade 21 Jahre jung. Sie studierte an der Freien Universität (FU) Berlin im dritten Semester Jura und jobbte in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei.

Religiös ohne Kopftuch

Am 16. Juni 2017 hat Ates im Berliner Stadtteil Moabit mit Gleichgesinnten eine liberale Moschee eröffnet, die all jenen offen steht, die sich bislang vom konservativen Islam ausgegrenzt fühlten. „Das Landeskriminalamt ist über unsere Pläne informiert“, sagte Ates im Vorfeld, und auch, dass es ohne Polizeischutz nicht gehe. „Bisher haben wir nur wenige hässliche Emails bekommen, dennoch müssen wir vorsichtig sein“, so Ates. Sie habe es gelernt, mit der Angst zu leben. Zurzeit bildet sie sich im Selbststudium zur Imamin, Vorbeterin fort. Anders als im Christentum gibt es im Islam keine einheitlichen Ausbildungsstrukturen für Geistliche und Lehrer, was auch die Einführung islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen erschwert. Mit ihren Eltern, zu denen sie jahrelang ein eher gespanntes Verhältnis hatte, verbinde sie heute viel, sagt Ates. In einem Fernsehfilm auf Arte sieht man sie gar mit einem Kopftuch bekleidet beten, obgleich sie sich in der Öffentlichkeit wiederholt dagegen ausgesprochen hat. Das habe sie nur Ihrer Mutter zuliebe getan, sagte sie später. Es gebe im Koran schließlich keine Stelle, an der das Tragen eines Kopftuches für Frauen eindeutig vorgeschrieben sei.

Eine enge Freundschaft verbindet Seyran Ates von jeher mit Saïda Keller-Messahli, die in der Schweiz das „Forum für einen fortschrittlichen Islam“ gegründet hat. Ates will den Islam von seinem teils fragwürdigen Ruf befreien, sagt sie, indem sie scheinbar unumstößliche Dogmen hinterfragt; so wie sie es immer gemacht hat, früher als Klassen- und später als Schulsprecherin.

1997 schloss Ates am Berliner Kammergericht ihre juristische Ausbildung mit dem zweiten Staatsexamen ab, in der Schule war sie Klassenbeste gewesen, obgleich sie bei ihrer Ankunft in Berlin kaum Deutsch sprach. Mehrere Bücher hat Ates seither veröffentlicht, einige im renommierten Berliner Ullstein-Verlag. Wiederholt trat sie im Radio und in Talkshows auf, darunter bei Beckmann, Maybrit Illner und Anne Will. Zweimal musste Ates ihre Anwaltskanzlei schließen, zweimal hat die heute 54-Jährige sie wieder aufgemacht. Sie sei ein Stehaufmännchen, sagt sie, lasse sich durch nichts und niemanden einschüchtern und hoffe darauf, dass der Rechtsstaat in Deutschland funktioniere. Immer wieder hat sich Ates aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um dann teils nach Jahren mit einem neuen Projekt, Buch oder Medienauftritt dorthin zurückzukehren.

Religiöser Meltingpot

Ates`Wahlheimat ist seit ihrem sechsten Lebensjahr Berlin, wo sie einen Teil ihrer Sozialisation erfuhr; und der Stadtteil Wedding, wo sich heute ihre Kanzlei befindet, längst ein Meltingpot der Kulturen und Religionen im Berliner Nordosten. Auch der spätere Stasi-Minister Erich Mielke wuchs hier in in proletarischen Verhältnissen auf. Doch den Stadtbezirk „Klein Istanbul“ zu nennen, wäre für den Wedding zu kurz gegriffen. Denn längst leben dort nicht nur türkische Einwanderer, gleichwohl die muslimische Prägung des Bezirks unübersehbar ist. Kopftuch tragende Frauen und Mädchen bevölkern nicht nur Straßen, Schulen und Bürgersteige. Auch in Bäckereien, Schneidereien und selbst in Boutiquen stehen sie an der Kasse oder räumen Kartons aus. Wer als Berlinbesucher gut orientalisch essen und trinken will, findet im Wedding immer eine passende Lokalität; vom Nobelrestaurant bis hin zu Ständen und Imbissbuden, aus denen es im Winter verführerisch süß duftet wie sonst nur auf einer Kirmes im Rheinland. „Ich bin keine kritische Muslimin, sondern ein kritischer Mensch“, korrigierte Seyran Ates kürzliche Spekulationen um ihre Person. Das kritische Hinterfragen habe sie im Studium gelernt, sagt sie. In ihren Büchern plädiert Ates für einen weltoffenen Islam, der sich den Menschen zuwende, wie sie nun mal seien, unvollkommen und fehlerhaft. Und alle irgendwie auf der Suche nach Halt und dem Sinn des Lebens.

Veröffentlicht von on Jun 19th, 2017 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

Hinterlassen Sie einen Kommentar!