Kontextualisierung des Europarechts

Ulrich Haltern legt sein Europarecht ganz neu auf

Matthias Wiemers

Ich erinnere mich: Im Sommer 2006 fuhr ich für eine Woche von Berlin nach Budapest – mit der Bahn vom Berliner Ostbahnhof aus. Während der Fahrt las ich die erste Auflage des hier vorzustellenden Werks, einbändig, in kleinerem Format, aber doch schon eine Menge Stoff für so eine Bahnfahrt. Das Buch war im Vorjahr erschienen und wurde dann im Jahr darauf – kaum verändert – nochmal aufgelegt.
Hier zeigt sich früh, dass mit dem damals noch in Hannover lehrenden Ulrich Haltern ein Europarechtler auf die Bühne der deutschen Universität getreten war, von dem man sicherlich noch einiges würde lesen können. Nun, seine Leser mussten zehn weitere Jahre warten, bis das schon länger angekündigte Lehrbuch wieder aufgelegt wurde. Dabei sind nunmehr zwei Bände erschienen und auf einen dritten wird noch gewartet. Hatten die ersten Auflagen sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass Haltern nun schon seit geraumer Zeit an der renommierten Freiburger Albert-Ludwigs-Universität lehrt, so macht er mit der Neuauflage, dies sei hier schon einmal gesagt, noch einmal einen großen Sprung nach vorn. Kommen wir also nun direkt zur Neuauflage, weil sie in der Tat vollständig neu ist.
Band I über „Entwicklung, Institutionen, Prozesse“ beginnt mit einem Teil 1 „Grundlagen“, der sich wiederum in „Dogmatik und Kontext im Europarecht“ (§ 1) und „Grundzüge der europäischen Integration“ (§ 2) gliedert. Ist § 2 ein kurzer geschichtlicher Abriß von immerhin gut 150 Seiten, so wird in § 1 der Kern des Buchs offengelegt, wird erläutert, was das Anliegen des Autors ist. Haltern vermisst einerseits europarechtliche Theorie (Rdnr. 4), andererseits ist ihm das bisherige Verständnis des Europarechts zu formalistisch (Rdnr. 5 f.). Haltern glaubt letztlich, dass ein Universitätsstudium, auch wenn es der juristischen „Ausbildung“ dient, auf ein Hineinstellen der juristischen Dogmatik in ihre Kontexte nicht entbehren kann. Insbesondere das Europarecht müsse Kontexte thematisieren (Rdnr. 9). Dem kann man wohl zustimmen. Denn wenn schon die im Ursprung der EWG besonders wirkmächtigen Rechtstraditionen Frankreichs und Deutschlands gravierende Unterschiede aufwiesen, so stellt sich doch die Frage, ob dies im Laufe der Entwicklung des Acquis Communautaire durch immer neue Einflüsse immer neuer Mitgliedstaaten nicht viel komplexer geworden ist.
In Teil 2 werden mit dem politischen System der EU „Institutionen und Akteure“ (§ 3) und „Prozesse (§4) erläutert und wird damit zugleich ein politikwissenschaftliches Lehrbuch inkorporiert.
Wie weit dies geht, zeigt sich anhand von Stichworten wie „Agenda-Setting“ und „Governance“ und Diskussionen wie „Kommission und Finanzkrise“ (im Rahmen von „Funktionen und Aufgaben, S. 257) oder „Herrschaftsmodi und Demokratiedefizite: Inter-, Supra- und Infranationalismus in der Demokratietheorie“ (S. 558).
Der zweite Band mit den Themen „Rule of Law“, „Verbunddogmatik“ und „Grundrechte“ wirft nur im Hinblick auf die Grundrechte auf den ersten Blick keine Fragen auf. Was fasst der Autor unter die Rubrik „Rule of Law“? In drei Paragraphen werden hier behandelt. „Die Rechtsgemeinschaft und der EuGH“ (§ 5), „Rechtsschutzsystem: Grundlagen“ (§ 6) und „Rechtsschutzsystem: Einzelheiten“ (§ 7). Die „Verbunddogmatik“ umfasst sodann die Einzelaspekte „Unmittelbare Anwendbarkeit“ (§8 ), „Nationale Rechtsbehelfe, Sanktionen, Haftung“ (§ 9) sowie den „Vorrang“ (§ 10) des EU-Rechts.
In Teil 5 werden sodann die Grundrechte und die Unionsbürgerschaft behandelt (§§ 11 und 12).
Die „Tiefenschärfe“ der Haltern´schen Untersuchungen lässt nichts zu wünschen übrig. So werden etwa alle denkbaren dimensionen des Vorrangs des europäischen Rechts ausgeleuchtet und dabei sowohl die EU-Perspektive als auch nationale Perspektiven – natürlich unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland – eingenommen. Wer beim Thema Grundrechte – insbesondere bezüglich des Verhältnisses der nationalen zu den EU-Grundrechten – allmählich nicht mehr durchblickt, dem sei die vorzügliche Darstellung im zweiten Band (§ 11, S. 669 ff. Rdnr. 1553 ff.) empfohlen, wo auch die Konsequenzen der jeweils denkbaren Interpretationen dargestellt werden.
Fazit: Schon aufgrund des deutlich angewachsenen Umfangs der nun erst zwei von drei Bänden bräuchte es schon die Transsibirische Eisenbahn, um die Bände von vorn bis hinten zu lesen. Studierenden sei dies aber durchaus empfohlen. Der Bahnfahrer sollte sich freilich den Blick auf die Taiga bewahren.

Ulrich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext. Band I: Entwicklung, Institutionen, Prozesse und Band II: Rule of Law, Verbunddogmatik, Grundrechte, 3. Aufl., Tübingen 2017, 623 und 977 S., 24 bzw. 34 Euro

Veröffentlicht von on Jun 12th, 2017 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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