Theorie und Praxis

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

mein Freund S. hatte eine Theorie zum Umgang mit Mädchen bzw. Frauen, die da lautete: Man darf sie niemals zu gut behandeln. Jedenfalls nicht, wenn man „etwas von ihnen will“. Wer immer nett sei, werde nämlich von der Damenwelt nicht ernst genommen. Diese Auffassung hatte S. bereits in der gymnasialen Oberstufe vertreten, die ich gemeinsam mit ihm besuchte. (Er war der einzige unter meinen vier männlichen Studienfreunden, den ich schon vor der Unizeit gekannt hatte.) Damals hatte S.‘ Meinung in unserem Freundeskreis durchaus Gewicht; insbesondere auf diesem Sektor, wo er eine Art Expertenstatus innehatte. Nicht, dass er jemals eine Freundin im eigentlichen Sinne gehabt hätte, da war er gewissermaßen so unbeleckt wie wir anderen auch. Aber er hatte schon im Alter von 15 Jahren während eines Urlaubs in Italien ein hocherotisches Abenteuer erlebt, von dem er uns seitdem unzählige Male in allen Einzelheiten berichtet hatte. Vor allem in feucht-fröhlicher Runde, wenn wir schon die eine oder andere Bierflasche geleert hatten, wurde er immer wieder von uns aufgefordert, doch noch einmal diese Geschichte zu erzählen. Sie lief darauf hinaus, dass S. von der ebenfalls minderjährigen Tochter des Hotelbetreibers nachts im Swimmingpool verführt worden war. Und mit der Autorität des überlegenen Erfahrungswissens beschwor uns S., „als Mann“ dürfe man nie so werden wie unser Schulfreund H. (das sagte er natürlich nur, wenn H. gerade nicht dabei war). Wer sich mit den Mädchen aus der Jungen Union zum Kuchenbacken verabrede (und  dies hatte H. tatsächlich manchmal getan), der werde nie, aber auch wirklich niemals!, eine Freundin finden, so mein Freund S.

Jahre später im Jurastudium. War das eine Überraschung, als wir hörten, dass unser alter Schulfreund H. nach langen Semestern in Göttingen die Uni wechseln und ausgerechnet in unserem Studentenstädtchen, das von den Einheimischen sonderbarerweise als Metropole bezeichnet wurde, sein Studium fortzusetzen gedachte. Er hatte es, wie er uns erzählte, in Göttingen nicht mehr ausgehalten, weil da noch seine Ex-Freundin studierte, deren fortwährenden Anblick er sich nicht mehr zumuten könne. Und so habe er sich eben an S. und mich, seine alten Schulfreunde, erinnert. Wir hießen ihn natürlich herzlich willkommen und versuchten, ihn etwas aufzubauen, da er einen ziemlich verzweifelten Eindruck machte. Die Trennung von seiner nunmehrigen Ex-Freundin war wohl noch recht frisch… Doch dachte ich mir: So also kann das Blatt sich wenden! Damals war ich schon seit mehreren Semestern mit meiner Freundin liiert, die inzwischen seit 17 Jahren meine Frau ist. Und H., der laut S. niemals eine Freundin finden werde, schon weil er viel zu nett sei und sich seinerzeit immer mit den Mädchen aus der Jungen Union zum Kuchenbacken verabredet habe, beklagte nun bereits seinen Trennungsschmerz. Doch wer noch bis zum Ersten Staatsexamen ohne Freundin dastehen sollte, das war unser großer Stratege S.

Aber es kam noch viel besser. Es war nämlich zu eben jener Zeit, als unsere überaus attraktive türkischstämmige Freundin V. , was niemand mehr für möglich gehalten hätte, sich von ihrem Freund getrennt hatte und schon seit fast einem Semester solo war. Und nun traf sie also eines Abends in der Studentenwohnheim-WG meines Freundes S. auf den von der Frauenwelt enttäuschten H. Es entging uns nicht, dass sich beide, H. und V.,  schon bei ihrer ersten Begrüßung interessiert ansahen. Und ich muss zugeben, dass es mir großen Spaß machte, H. bald darauf zur Seite zu nehmen und ihm leise zu sagen: „ V. ist schon seit einem Semester Single. Aber keine Chance, sie will keinen Freund, sonst hätte sie schon längst wieder einen.“ Und etwas später sagte ich ganz beiläufig zu V.: „Der H. ist gerade etwas schlecht drauf. Er hat sich von seiner Freundin getrennt. Aber er will auf keinen Fall wieder etwas mit Frauen anfangen.“ Das genügte vollkommen. V. und H. unterhielten sich den ganzen Abend angeregt  miteinander. Doch V. ließ ihn noch monatelang zappeln. Immerhin verabredete sie sich zum Mensaessen nun aber ausschließlich mit H. (und nicht mehr mit mir oder jemand anderem aus meinem Freundeskreis), der fortan auch ihre Einkäufe erledigte und ihr auch sonst in jeder nur denkbaren Hinsicht behilflich war. Erst im darauffolgenden Semester stellte uns V. nunmehr offiziell H. als ihren Freund vor. Später ist H. dann durchs Examen gefallen, während V. es auf Anhieb zu einem brillanten „Befriedigend“ gebracht hat. Doch V. kümmerte sich aufopferungsvoll um ihren Examens-Pechvogel und coachte ihn zu einem erfolgreichen Wiederholungsversuch. Inzwischen sind die beiden, soweit ich weiß, schon seit fast anderthalb Jahrzehnten miteinander verheiratet.

Hingegen ist mein Freund S. bis heute ein überzeugter Single geblieben. Treu geblieben ist er insbesondere seinem Grundsatz, Frauen gegenüber auf keinen Fall zu nett zu sein. Ich habe nicht mehr viel Kontakt zu ihm. Das letzte, was ich von ihm gehört habe, ist, dass er vorübergehend eine Freundin gehabt, sich aber kurzerhand wieder von ihr getrennt habe, weil sie ihm ständig vorgeschlagen hätte, mit ihm eine Familie zu gründen. Dieses Ansinnen kommentierte S. mit den Worten: „Ich bin doch nicht bekloppt.“

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Feb 29th, 2016 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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