Dirk mag sich einfach nicht mehr so

Tocotronic mit ihrem elften, dem „roten“ Album

Thomas Claer

tocoRein optisch ist das neue Tocotronic-Album in seinem knallroten Cover ja eine durchaus runde Sache geworden, und auch die Marketing-Abteilung hat ganze Arbeit geleistet, wie das Erscheinungsdatum 1. Mai samt abendlichem Konzert im Kreuzberger SO36 beweist. Doch geht es inhaltlich auf der elften Platte der Tocos in über 20 Jahren Bandgeschichte mitnichten um den politischen Kampf oder gar die Arbeiterbewegung. (Man hätte es den Männern um Bandleader Dirk v. Lowtzow, seines Zeichens der Spross eines alten deutschen Landadelsgeschlechts mit Stammsitz in Mecklenburg, trotz mancher Flirts mit dem Salonbolschewismus in der Vergangenheit auch nicht so recht abgenommen.) Nein, das Thema des „roten Albums“ soll nicht weniger sein als: „die Liebe“.
Um gleich mit dem Positiven zu beginnen: Die Texte enthalten hin und wieder einige recht gelungene Passagen wie  „Unter deiner Decke fasst mich das Chaos an“ oder auch „Ein Geheimnis vertraue ich dir noch an: Ich bin leicht zu haben / Nimm dir, was du kriegen kannst!“. Doch leider lässt die musikalische Umsetzung mal wieder sehr zu wünschen übrig. Man kann es ja verstehen, dass sich die Band nach all den Jahren nicht mehr ständig wiederholen, sondern ab und zu auch etwas Neues ausprobieren will. Aber musste sie wirklich solche Unmengen Weichspüler in ihre Songs schütten, dass man glauben muss, man hätte sich auf ein Schlagerfestival verirrt? Mit traumwandlerischer Sicherheit wurde auch diesmal wieder ausgerechnet einer der schwächsten Titel des Albums zur Single gemacht: „Die Erwachsenen“. Nicht der aus der Feder eines 44-Jährigen reichlich alberne, wenn auch in der Sache nicht ganz unzutreffende Text („Man kann den Erwachsenen nicht trauen“) ist hier das Problem, sondern die unerträglich kitschige Musik, wie ironisch sie auch immer gemeint sein mag. Es ist wirklich nur zum Weglaufen. Eine besonders schlimme Vorstellung ist es, dass sich davon womöglich junge Leute angesprochen fühlen könnten, die ja inzwischen bekanntlich eher wieder die seichten Klänge lieben, während sie z.B. krachenden Punkrock als die altmodische Musik ihrer Großeltern verspotten.
Allenfalls dem Auftaktsong, dem elektronisch instrumentierten, wenn auch textlich etwas rätselhaften „Prolog“, lässt sich noch etwas abgewinnen. Einen überraschenden Lichtblick gibt es dann aber immerhin ganz am Ende der CD – oder besser gesagt: nach ihrem regulären Ende: den „hidden Track“ „Ich hab ein Date mit Dirk“. Der ist zwar nicht weniger weichlich und verrätselt als die meisten anderen Stücke dieses Tonträgers, doch sorgen hier zielsichere Selbstironie und -kritik endlich einmal für einen überzeugenden Kontrapunkt. Der volle Text lautet: „Ich hab ein Date mit Dirk am ersten Frühlingstag/ Ich will wissen, ob er mich noch mag“. Die naheliegendste Interpretation dieser Zeile ist selbstverständlich die, dass das lyrische Ich hier gedanklich seinem früheren jugendlichen „alter ego“ begegnet (angeregt von Proust, das ist ja klar) und sich die bange Frage stellt, ob es von diesem wohl noch gemocht wird. Im Song bleibt es offen, aber wir kennen die Antwort schon: Nein, Dirk, dein früheres Ich würde dir angesichts dieser Platte vermutlich ein „Ich mag dich einfach nicht mehr so“ entgegennölen. Das Urteil lautet: 7 Punkte (befriedrigend).

Tocotronic
Tocotronic („Das rote Album“)
Vertigo Berlin (Universal Music) 2015
ASIN: B00U9XT7MK

PS: Ohne jede Einschränkung empfehlen wir jedoch weiterhin das grandiose Frühwerk der Band aus den Neunzigern, also die Scheiben „Digital ist besser“, „Nach der verlorenen Zeit“, „Wir kommen um uns zu beschweren“, „Es ist egal aber“ und „K.O.O.K.“, sowie ihre stärkste Platte aus den Nullerjahren „Kapitulation“.

Veröffentlicht von on Mai 18th, 2015 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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